This essay first appeared in

WIRKENDES WORT
HEFT 2, JAHRGANG 13
April 1963
Pädagogischer Verlag Schwann Düsseldorf
 

Franz Kafka - Ein Hungerkünstler

von Herbert Deinert

Der Hungerkünstler gehört zu den wenigen Prosastücken, die Kafka noch seIbst veröffentlicht hat.  Er erschien 1922 in der Oktobernummer der Neuen Rundschau und wurde im berühmten Testament eigens von der Vernichtung ausgenommen.  Unter den noch übersehbaren Interpretationen dieser Dichtung sind zwei Arbeiten von besonderer Wichtigkeit.  Benno v. Wiese [1] widmet ihr in seinem Buch zur deutschen Novelle eine ausführliche Studie.  Er sieht den Hungerkünstler als "die groteske Metapher für den isolierten Durchbruch zum Geist in einer verfremdeten Welt" (S. 337), eine "auf Askese gegründete freie geistige Existenz" (S. 333); das Hungern erscheint deshalb als Positivum per se: als Überwindung des vitalen Daseins in Raum und Zeit (S. 339).  Im Panther dagegen wird dem Hungerkünstler die pure, geistlose Vitalität gegenübergestellt, und von Wieses Urteil fällt eindeutig zugunsten des Hungerkünstlers.  Meno Spann [2] hat daraufhin überzeugend nachgewiesen, dass es nicht in Kafkas Absicht lag, den Hungerkünstler durch Konfrontierung mit dem primitiven, vitalen Dasein in besseres Licht zu rücken.  Er allerdings scheint selber der Faszination nicht entgangen zu sein, die das schöne Tier auf die Menge ausübt.  Während Benno v. Wiese sich für den Hungerkünstler entscheidet, plädiert Meno Spann für den Panther, und beide begründen ihre Stellungnahme mit der angeblichen Absicht Kafkas.  Diese Arbeit möchte vor allem zeigen, dass Kafka weder urteilt noch zum Urteil ermutigt.  Von Stellungnahme kann nur beim Publikum in der Erzählung die Rede sein, und dort geschieht es keineswegs im Namen Kafkas.  Seine Methode ist vielmehr ein poetisches Gutachterverfahren, das aus allen Blickwinkeln zugleich einen Sachverhalt anvisiert, ein vollständiges Bild entwirft und haarscharf vor der Urteilsbildung haltmacht.  Es ist das am wenigsten erwartete Resultat, dass dadurch das Urteil nicht erleichtert, sondern unmöglich gemacht wird.  Ja es stellt sich heraus, dab es gar nichts zu urteilen, keine Partei zu ergreifen gibt.  Der vordergründige Kontrast entpuppt sich als grober Irrtum, dem das Publikum erlegen ist.  Dieser Irrtum nun wird zum Thema der Dichtung.  Es geht nicht um die Gegenüberstellung von Vitalität und Askese -- dazu kommt es nur aus der Sicht des Publikums --, sondern um das unüberwindliche Mibverständnis im Verhältnis zwischen Individuum und Menge.  Nicht nur der Inhalt zeigt in immer neuen Variationen die Verwirrung dessen, was wahr scheint, und dessen, was wahr ist; die Art des Erzählens selbst spiegelt es auf kaum noch zu überbietende Weise.  Der Stil ist mehr als das zufällige Vehikel der Aussage; auf der Oberfläche klar, verbirgt er die Verwirrung um so sicherer und trägt somit selbst zur Verwirrung bei.  Schon aus diesem Grunde kann die vorliegende Arbeit auf Stilanalyse nicht völlig verzichten; zudem zeigt gerade sie am besten, dass der Erzähler keine andere Rolle beansprucht als die des sachlichen Berichterstatters, der auch den Leser zu keinerlei Stellungnahme errmutigt.  Niemand wird jedoch den Erzähler direkt mit Kafka identifizieren wollen, der die Geschichte wohl kaum um ihrer selbst willen schrieb.  Über seine Absicht lassen sich nur Vermutungen anstellen, aber sie erstreckt sich sicher nicht auf ein Urteil in dem Kontrast zwischen Vitalität und Askese, der, wie wir sehen werden, gar nicht existiert.

 Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den Hungerkünstler allegorisch zu interpretiercn.  Bereits Benno v. Wiese und Meno Spann haben das energisch abgelehnt, und es soll hier wenigstens angedeutet werden, warum wir uns gegen eine solche Auslegung entschieden haben.
Eine aIlegorische Deutung bietet wenig mehr als eine aufgeschlüsselte Nacherzählung.  Man setzt für die unbekannten Grössen seine Realwerte ein und interpretiert bestenfalls das eigene Ergebnis, z.B. das Verhältnis zwischen Künstler, Kritiker, Verleger und Publikum [3].  Da aber jeder Kritiker andere Realwerte für die richtigen hält -- und es liesse sich sicher eine ganze Reihe von Kombinationen finden, die auf unsere Dichtung passten --, diskutiert jeder etwas anderes, nur nicht den Hungerkünstler selbst.  Diese Erzählung aber heisst Ein Hungerkünstler und handelt von einem Hungerkünstler.  Auch wenn das an sich belanglos wäre, warum will man den Hungerkünstler, den Impresario, den Panther nicht als Hungerkünstler, Impresario und Panther gelten lassen?  Natürlich wäre die Geschichte absurd, wenn sie nicht über sich hinauswiese, das gilt von jeder Dichtung von Rang.  Auch wir glauben, dass es um etwas geht, das zwar an einer bestimmten Figur erläutert, jedoch nicht auf eine bestimmte Figur beschränkt ist.  Gerade das aber leugnet eine Interpretation, welche die Figuren und die Problematik unserer Dichtung in ihren "festen Werten" begräbt und somit ihrer weiteren Anwendbarkeit beraubt.

        Die Erzählung teilt sich in zwei Abschnitte; der erste handelt vom Hungerkünstler in eigener Regie [4], der zweite vom Hungerkünstler im Zirkus.  Alles, was erzählt wird, hat sich in der Vergangenheit zugetragen, und der Autor besitzt einen genauen Überblick.  Zwischen der Zeit der Ereignisse und dem Moment der Niederschrift liegen nur einige Jahrzehnte (S. 255), während der das Interesse am Schauhungern langsam nachliess, bis es schliesslich ganz aufhörte.  Der Sprung über diese letzten Jahrzehnte hinweg geschieht jäh im Satz "es waren andere Zeiten" oder genauer noch in dem anknüpfenden "damals".  Wir erfahren nun nicht, warum die Zeiten anders waren, sondern einfach, dass sie anders waren.  Der Satz "damals beschäftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerkünstler" ist lediglich eine Weiterführung des vorhergehenden "es waren andere Zeiten", und der aufmerksame Leser hätte ihn sich aus den beiden ersten Sätzen selbst folgern können.  Daran schliesst sich unmittelbar die Schilderung der anderen Zeit.  Bereits hier, zu Beginn des ersten Abschnitts, wird eins der stilistischen Merkmale deutlich: das einfache Berichten im Gegensatz zur Analyse.  Der Autor bleibt durchweg der nüchtern-sachliche Berichterstatter, nirgendwo erlaubt er sich eine Stellungnahme.  Das bezeichnendste und unscheinbarste Beispiel dafür folgt ein wenig später.  Nach dem Wutausbruch des Hungerkünstlers heisst es:
"Wenn die Zeugen solcher Szenen ein par Jahre später dran zurückdachten, wurden sie sich oft selbst unverständlich.  Denn inzwischen war jener erwähnte Umschwung eingetreten; fast plötzlich war das geschehen" (S. 262).
Und einige Zeilen später:
"Natürlich hatte das in Wirklichkeit nicht plötzlich so kommen können, und man erinnerte sich jetzt nachträglich an manche zu ihrer Zeit Ö nicht genügend beachtete Ö Vorboten."

Hier ist ein Ultimum an Berichtertreue geleistet.  Der Erzähler biegt den Sachverhalt nicht zurecht, um ein chronologisch exaktes Bild zu bekommen.  Er beginnt nicht mit den Vorboten (wobei er erwähnen würde, dass man sie nicht genügend beachtet habe) und leitet so den Umschwung ein; er stellt vielmehr die Nachricht vom Umschwung voran, und genau wie man sich damals erst nachrträglich der nun als Vorboten erkannten Zeichen erinnerte, wird auch der Leser erst nach der Erwähnung des Urnschwungs über die Vorboten unterrichtet.

Die kurze Einleitung geht unmittelbr in die erste Szene über.  Kafka beginnt aus weiter Perspektive, er bringt den grossen Rahmen, eine allgemein gehaltene Gesamtschau des Treibens.  Dann geht der weitgespannte Bericht unmittelbar, unmerklich fast, in Detailschilderung über; wir hören ein Wort über die Erwachsenen, sehen die Kinder den Käfig umstehen, schliesslich den Hungerkünstler selbst aus nächster Nähe.  Es ist wie eine allmähliche Verkleinerung des Blickfeldes, sowohl zeitlich als räumlich.  Über Jahrzehnte hinweg geschieht der Sprung zurück in die Vergangenheit des damals, aus der dann die schönen Tage ausgesondert werden.  Und räumlich verengt sich der Blickwinkel von der ganzen Stadt, die sich für den Hungerkünstler interessiert, über die den Käfig unmittelbar Umstehenden bis zur Grossaufnahme des Hungerkünstlers und seines winzigen Glässchen Wassers, aus dem er nippt, um sich die Lippen zu feuchten.  Die Übergänge sind unscheinbar, ohne Aufhebens gleitet die Schilderung innerhalb eines Satzes aus einem Bereich in den anderen.  So schliesst der allgemeine Teil:
"An schönen Tagen wurde der Käfig ins Freie getragen, und nun waren es besonders die Kinder, denen der Hungerkünstler gezeigt wurde" (S. 255).

Das Kornma, das die beiden  Hauptsätze trennt, sowie das folgende "und nun" sind die harmlosen Zeichen des Wechsels vom allgemeinen Betrieb in den deutlicheren Bereich von Hungerkünstler und Publikum.  Und als die Zuschauer ebenfalls weggelassen werden, um die Aufmerksamkeit ganz auf die Hauptfigur zu konzentrieren, ist die Technik dieselbe.  Wir erfahren, dass der Hungerkünstler durch das Gitter den Arm streckte, um seine Magerkeit befühlen zu lassen, dann aber wieder ganz in sich selbst versank.  Wiederum ist der Übergang im Satz verborgen und kaum bemerkbar, um so weniger, als sich die mehr als halbseitige Periode dem Ende zuneigt und der Leser die Kaskade aus Nebensätzen hinuntergleitet dem ersehnten Punkt zu.

Die ganze erste Szene ist ein Satz; fast eine Seite lang und doch kurz.  Denn er ist zum Zerbersten gefüllt mit knapp angedeutetem Detail, dessen ausführliche Schilderung Seiten in Anspruch nehmen könnte.  Die so erzielte Kompaktheit hat zur Folge, dass einzelne Abschnitte nicht unauffällig im Ganzen aufgehen, sondern sich jedesmal schwerpunktartig abheben und einen vorläufigen Schlussstrich ziehen.  Der nächste kann immer wieder an das Gesagte anknüpfen, aber thematisch beginnt etwas Neues.  Wir haben auf den Beginn soviel Zeit verwandt, weil hier eine Art von allerdings dehnbarem Schema sichtbar wird, dem die weiteren Episoden folgen.  Immer wieder beginnen die Abschnitte mit einführenden Bemerkungen, Überblick gebend, um dann unversehens in eine Szene einzumünden, die das zuvor Gesagte weiterführt und bereichert.  Eins der treffendsten Beispiele ist der dritte Abschnitt, die Amphitheater-Episode.  Kafka präsentiert zunächst ein alle Beleuchtungsmöglichkeiten erschöpfendes und deshalb verwirrend ausgewogenes Bild des Problems: der Hungerkünstler möchte länger hungern, als es sich rentiert.  Dann folgt eine an sich belanglose Wiederholung: Als Regel aber galt, dass vierzig Tage die Höchstzeit war (S. 258).  Der nächste Satz versetzt uns unversehens in die Amphitheater europäischer Grossstädte mit all dem faulen Zauber von Sensationsbetrieben.  Schliesslich am Ende des Abschnitts: "Ö das Orchester bekräftigte alles durch einen groben Tusch, man ging auseinander" (S. 261), und die letzten Zeilen finden uns allein mit dem Hungerkünstler.  So klingen sämtliche Episoden von weitem an, haben einen effektvollen Höhepunkt, klingen wieder ab.  Das bringt eine Ausgeglichenheit in die Struktur der Dichtung, die zur verwirrenden Behandlung der Problematik in grellem Widerspruch steht.  Der besondere Reiz dieser Prosa liegt gerade in der Verschleierungstechnik, mit der die Präzision des Stils die ausweglose Verwirrung des Inhalts verbirgt, dessen Thema aber gerade diese Verwirrung ist.

 Benno v. Wiese spricht von diesen Episoden als der verwandelnden Welt des Hungerkünstlers:

"Hungerkünstler, Impresario, Wächter, Publikum, Käfige mit Stroh, Zirkus, Raubtiere, das alles kennen wir.  Aber diese Gegenstände begegnen uns hier seltsam verfremdet, als ob wir sie nicht kennen.  Sie sind sinnlich und doch abstrakt, wirklich und auch wieder überwirklich, bizarr und grotesk, ins Unheimliche gesteigert, so dass wir uns mit einem Male in einer Welt befinden, in der wir nicht mehr 'zu Hause' sind" (S. 328).

 Das hat verschiedene Gründe, und auch sie sind stilistischer Art.  Der Abschnitt mit dem Wutausbruch des Hungerkünstlers beginnt: "Und wenn sich einmal ein Gutmütiger fand, Ö konnte es Ö geschehen Ö" [5]  Und abschliessend: "Doch hatte für solche Zustände der Impresrio ein Strafmittel, das er gern anwandte."  Diese Beispiele, die sich aus anderen Episoden vermehren liessen, zeigen, dass wir es nicht mit der exakten Wiedergabe einer einmaligen Situation zu tun haben, sondern dass diese Szene eine zusammenfassende Funktion hat; sie schildert die Grundelemente vieler anderer Situationen ähnlicher Art.  Und dies gilt, die letzte ausgenommen, von allen Episoden.  Sie geben den Ablauf der in jeder Hungerperiode wiederkehrenden Szenen in den wesentlichen Zügen wieder.  So sieht ein Hungerkünstler aus, der nach wochenlangem Fasten ins Freie getragen wird.  So reagieren Wächter und breites Publikum, gleichviel ob der Hungerhünstler in Paris, London oder Wien auftritt.  So sieht eine Schlussfeier aus, usw.  Unsere Episoden sind nicht einmalig, sondern typisiert.  Ihnen fehlt das Kolorit des festgehaltenen Augenblicks.  Denn es handelt sich nicht um Szenen im eigentlichen Sinn, sondern um Abstraktionen vieler Szenen ähnlicher Art.  Hinzu kommt, dass sie nicht dargestellt, sondern beschrieben werden: direkte Rede fehlt.  Eine viele Jahre hindurch wiederkehrende Hungerperiode von vierzig Tagen wird in ihren Hauptelementen geschildert.  Dasselbe gilt von der letzten, tödlichen Hungerperiode, ausgenommen ist nur das Gespräch mit dem Aufseher.  Wir haben es mit Kondensierung zu tun, nicht mit Auswahl. Ein Hungerkünstler, so möchte man sagen, ist die Kondensierung eines Romans, den es nicht gibt; nur das letzte Gespräch musste gleichsam wörtlich zitiert werden.  Man stelle sich einmal einen Roman vor, der in chronologischer Folge Hungerzeit um Hungerzeit mit dem ewigen Einerlei ähnlicher Szenen und derselben festsehenden Thematik darstellte, er brächte uns zur Verzweiflung.  Denn, und das ist der Hauptgrund für die zusammenfassende Kürze, es liegt keine Entwicklung vor.  Kafka stellt den Hunerkünstler der vielen Jahre (S. 261) als veränderungslose Persönlichkeit dar.  Die Anordnung der Episoden im Text -- Gespräch und Pantherszene immer ausgenommen -- ist rein willkürlich.  Man könnte eher von einer Szenenreihe sprechen als von einer Szenenfolge.  Grundsätzlich sind z.B. Wächterszene, Wutausbruch und Amphitheater untereinander auswechselbar.

 Der Hungerkünstler lebt viele Jahre, wie ihn die Episoden des ersten Teils beschreiben.  Stünde dort etwa dreissig Jahre, es würde uns nichts bedeuten.  Auf den Hungerkünstler trifft unser Zeitbegriff nicht zu, er lebt in seiner eigenen Zeit, einer immer wiederkehrenden Periode von vierzig Tagen.  Alle Szenen des ersten Teils spielen sich während dieses Zeitabschnitts ab, und sooft sich die Hungerperiode wiederholt, wiederholen sie sich -- mit Abstrichen -- auch.  Sein Leben ist keine geradlinige Folge von Jahren, sondern eine ständige Wiederkehr von vierzigtägigen Intervallen.  Von den Ruhepausen erfahren wir nichts, als dass sie regelmässig auftreten.  Die Frage des Schauplatzes bleibt ebenfalls ausser acht.  Wir erfahren zwar, dass der Impresario mit seinem Klienten in Europa reist, aber ein bestimmter Ort wird nicht genannt.  Denn wie es für den Hungerkünstler gleichsam nur eine Zeit gibt (die er vergeblich zu verlängern sucht), gibt es für ihn auch nur einen Ort: den Käfig.  Wie er ausserhalb der wirklichen Zeit steht, steht er ausserhalb des wirklichen Raumes.  Vor diesem verschwindend kleinen Segment unserer Realität, in dem der Hungerkünstler sein Dasein fristet, wächst er selbst ins Überdimensionale.  Und gerade durch die Ausschliesslichkeit, mit der seine Welt behandelt wird, erscheint sie "ins Unheimliche gesteigert", wir Benno v. Wiese es formulierte.  Der Hungerkünstler lebt in einer Scheinwelt, und das in mehr als einer Beziehung.

 An der gründlichen Verwirrung des Verhältnisses von Schein und Wirklichkeit im Hungerkünstler erweist sich der Trugschluss von der Klarheit der Sprache Kafkas auf die Zugänglichkeit seiner Aussage.  Zwischen Hungerkünstler und Publikum besteht keine andere Beziehung als die zwischen Objekt und kritischem, aber heimlich fasziniertem Beobachter.  Wirklichen Kontakt gibt es nicht, unübersehbares Symbol dessen ist der Käfig.  Die innere Beziehungslosigkeit kommt deutlich in den Gesten zum Ausdruck, bereits in der ersten Szene.  Auf der einen Seite das Publikum: die Erwachsenen, oft nur der Mode halber da, gutmütig oder hochnäsig distanziert; die Kinder betrachten, der Sicherheit halber einander bei der Hand haltend, mit einem aus Furcht und Staunen gemischten Interesse den seltsamen Eremiten, dessen Aussehen dem des Todes in ihren Bilderbüchern recht nahekommt.  Auf der anderen Seite der Hungerkünstler: Sein Interesse an denen da draussen ist echt, aber die Zeichen davon sind nur spärlich.  Er lässt seinen Knochenarm betasten, nickt höflich, lächelt angestrengt, aber auf diese Weise hält er, ohne es zu wollen, die Distanz eher aufrecht, anstatt sie zu vermindern.  Auch sind dies nur kurze Phasen äusserlichen Kontakts, nach denen er sofort wieder in sich selbst versinkt und sich um niemanden und nichts kümmert; allerdings nur scheinbar, denn in Wirklichkeit kümmert ihn das Publikum sehr.  Und bei den langen Nächten, die er mit den kritischen Wächtern verplaudert, ist auf seiner Seite so viel Zweckbedingtheit im Spiel und auf seiten des Publikums so viel Misstrauen angesichts des freien Frühstücks, das den Männern morgens serviert wird, dass auch hier das Resultat das genaue Gegenteil eines fruchtbaren Verhältnisses ist.  So bleiben sich beide Seiten fremd.  Das bedeutet für den Hungerkünstler einen fortwährenden Zustand von Vergeblichkeit.  Er bemüht sich, das Publikum zu überzeugen, dass fehlerlos gehungert wird.  Dieses aber glaubt nur, was es für glaubhaft hält und was es verfolgen kann.  Selbst die Wächter, eingeführt zur Beruhigung der Massen (S. 256), bedeuten da nichts, denn sie unterscheiden sich vom Rest nur durch die Länge der Zeit, die sie beim Hungerkünstler zubringen, die aber keineswegs an vierzig Tage heranreicht.  Es ist ein Zeichen völliger Verkennung der Lage, dass dieser ausgerechnet durch längere Hungerperioden das Publikum umstimmen will, was der besser orientierte Impresario denn auch verhindert.  Die Haltung des Publikums beruht auf der Annahme, der Hungerkünstler habe heimlich Vorräte zur Verfügung.  Und insofern betrügt es den ehrlich, d.h. ohne Tricks, ohne Nahrungsaufnahme Arbeitenden um seinen Lohn (S. 266).  Man verweigert ihm die Anerkennung, ohne sich auf mehr stützen zu können als auf das eigene Vorurteil.  Nähme die Menge seine Worte von der Leichtigkeit des Hungerns ernst, wäre ihre Haltung gerechtfertigt.  Die kaum noch zu überbietende Ironie liegt gerade darin, dass das Publikum dann erst recht keinen Grund hätte, ihn zu bewundern.  Der Hungerkünstler zöge in jedem Falle den kürzeren.

 Einzig der Empresario kann in der Schlussfeier im Amphitheater einen Erfolg sehen.  Für den Hungerkünstler ist sie eine Scheingenugtuung, für die Menge einfach ein Fest.  Unter dem Vorwand, den Hungerkünstler zu feiern, machen Impresario und Publikum der Hungerzeit ein Ende.  Die Menge ist ermüdet, ein grosser Radau kann das abklingende Interesse noch einmal anfachen.  Vom scheinbar Gefeierten heisst es ebenfalls, dass er müde war, und nicht zuletzt deshalb möchte er gerade das Gegenteil, nämlich die Hungerzeit unbegrenzt fortsetzen.  In diesem Abschnitt gebraucht Kafka selbst wiederholt die Worte Schein und Wirklichkeit.  So sind die beiden Damen nur scheinbar freundlich, in Wirklichkeit aber grausam.  Und das auf doppelte Weise.  Vom Hungerkünstler aus gesehen, üben sie keine Tat der Caritas, sondern sind unmenschlich.  Der Leser weiss, dass ihr freundliches Lächeln nur die leere Pose des Erwählten ist; in Wirklichkeit sind sie nicht an ihrer Aufgabe interessiert, sondern glücklich, sich im Rampenlicht sonnen zu dürfen.  Eine weitere Stelle lautet: "Die Beine des Hungerkünstlers scharrten den Boden, als sei er nicht der wirkliche, den wirklichen suchten sie erst."

Darüber hinaus ist die "entnervende Verdrehung der Wahrheit" (S. 262) in jeder Geste, ja, die ganze Episode ist eine grosse Farce.  Die pathetische Gebärde des Impresario drückte nur ein scheinbares Mitleid mit dem bedauernswerten Märtyrer aus.  In Wirklichkeit trägt er dazu bei, den Hungerkünstler zum Märtyrer zu machen, und hinter ihm steht wiederum das nur aus Gewohnheit applaudierende Publikum als bewirkende Macht.  Nur scheinbar weiss der Leser schon hier, was der volle "ganz andere Sinn" von bedauernswerter Märtyrer ist.  Das erfährt er erst gegen den Schluss, und von dort aus erhält die verlogene Geste des Impresario, der Himmel solle sich sein Werk hier auf dem Stroh einmal ansehen, eine tiefere Bedeutung, die der schauspielernde Agent allerdings nicht beabsichtigt.  Nur scheinbar ist der groteske Aufzug des Hungerkünstlers ausschliesslich eine Folge des Hungerns.  In Wirklichkeit ist seine gebrochene Haltung nicht weniger stark Ausdruck enttäuschter Resignation.  Nur scheinbar hat sich das Publikum zur Ehrung des Hungerkünstlers eingefunden; das beweist endgültig das entzückte Gelächter beim Anblick des hilflosen Dreiecks, in das der Leser nicht einstimmen kann.  Und schliesslich stellt sich heraus, dass die ganze solenne Prozession mit den beiden Damen überhaupt nur modisches Theater war.  In Wirklichkeit ist man auf den Ausgang solchen Ehrenjungfergeleits durch Erfahrung vorbereitet, und der längst bereitgestellte Diener übernimmt den Rest.

 Dies verwirrende Spiel könnte an jeder Episode aufgezeigt werden.  Hinzu kommt ein ständiges Jonglieren mit verschiedenen Perspektiven, die die Dinge abwechselnd aus der Sicht des Hungerkünstlers, des Impresario, des Publikums und des Erzählers beleuchten.  So sondiert Kafka hier die Abgündigkeit in den Beziehungen zwischen Individuum und Menge mit einer Meisterschaft, die er nur noch in der Erzählung von Josefine, der Sängerin, übertrifft.  Die auf den ersten Blick völlig unkomplizierte Darstellung entpuppt sich bei näherem Zusehen als ein Gewirr von Gesichtspunkten, und gerade das Mehrspurige des Verfahrens führt zu der bewundernswerten Treffsicherheit in der Aufdeckung des Problems.

 Wer vom letzten Gespräch eine Auflösung der Differenzen erhofft, sieht sich enttäuscht.  Man erwartet von der Szene mehr, als sie gibt, denn sie ist anders als alle anderen.  Sie ist einmalig, wir haben sie uns so und nicht anders an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit vorzustellen.  Im Eindruck der Einmaligkeit kommt ihr nur das Ehrengeleit der beiden Damen nahe, aber dort hat man das Gefühl, Kafka werde von seinem Sinn für Detailschilderung davongetragen, und er nimmt den erweckten Eindruck auch gleich darauf zurück.  Auf das Gespräch folgt unmittelbar der Tod des Hungerkünstlers: die Stellung im Text kann also nur hier sein.  In dieser Episode liefern sich Hungerkünstler und Publikum das letzte Treffen, aber der Ausgang ist um keinen Grad versöhnlicher.  Aufgehellt wird lediglich die Situation des vereinsamten Alten:

"Weil ich hungern muss, Ö weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.  Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle" (S. 267).

 Das ist eine überraschende Pointe, die uns veranlasst, die ganze Erzählung noch einmal zu lesen.  Das Ausnahmedasein des Hungerkünstlers besteht also nicht im Hungern, sondern in dem ungewöhnlichen Fall, einen nicht zu befriedigenden Geschmack zu besitzen.  Der Hungerkünstler ist ein Ausnahmefall in der vollen Bedeutung des Wortes.  Durch diese Anlage sieht er sich ausgeschlossen von der Wirklichkeit seiner Umwelt.  Teilnahme im Sinne eines normalen Lebens ist ihm versagt.  Für ihn gibt es nur eine Möglichkeit, Kontakt mit der andersgearteten Umwelt herzustellen: gerade aus seiner lebensgefährdenden Anlage Kapital zu schlagen.  Indem er seine Nichtteilnahme am normalen Leben zur Schau stellt, schafft er eine Beziehung zu seiner Umgebung, wenn auch eine negative.  Die einzige Existensmöglichkeit, die einer so gearteten Abart des Normalen bleibt, ist die Existenz als Schaustück.  Er setzt eine negative Anlage in positive Tätigkeit um, die jedoch in den Augen des Publikums als negative Haltung erscheinen muss (falls es sich überhapt darüber Gedanken macht), nämlich als weitgehende Negierung des normalsten Triebes, des Selbsterhaltungstriebes.  Das Schauhungern ist eine Art von Kompromiss zwischen Anlage und Wirklichkeit.  Aber es kann dem Hungerkünstler nicht genügen, sein Hungern nur zur Schau zu stellen.  Allein die Bewunderung des Publikums kann ihm die Aufnahme bringen, nach der er verlangt.  Seines Ermessens verdient Bewunderung offensichtlich jemand, der mit Leichtigkeit vollbringt, was anderen selbst unter grösstem Aufwand unmöglich wäre.  Die Menge soll nicht etwa die enorme Anstrengung bewundern -- die ja in Wirklichkeit keine ist, wie der Hungerkünstler sehr wohl weiss, und deshalb ist er, der der einzige von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer sein könnte, unzufrieden mit sich selbst (S. 258) --, sondern das natürliche, mühelose Können.  Deshalb machen gerade die Wächter, die ihm Gelegenheit zum Betrug geben wollen, ihm das Hungern entsetzlich schwer (S. 256).  Sie gönnen ihm zwar den Erfolg, bezweifeln aber sein Können, während er alles versucht, die Welt zu überzeugen, dass er hungerte, wie keiner von ihnen es könnte  (S. 257).

 Es ist also genau das Unzulängliche der Anlage, das hier, ins Positive verkehrt, bewundert sein will.  Was das Publikum als Lebensverneinung (oder Betrug) ansieht, ist in Wirklichkeit die einzige Form der Lebensbejahung, die dem so Veranlagten bleibt.  Diese negative Beziehung zur Welt des Publikums wird aber in dem Augenblick aufs höchste gefährdet, als die Fähigkeit des Hungerkünstlers den engen Rahmen des Glaubwürdigen überschreitet.  Die Verkennung würde in dem Masse steigen, wie die Leichtigkeit des Hungerns unter Beweis gestellt wird, und die letzte, unbegrenzte Hungerperiode führt mithin zur schärfsten Ablehnung.  Darüber hinaus aber hebt der Hunerkünstler gerade durch den absoluten Beweis seine eigene Existenz auf, und das hätte er einfacher haben können, wenn er nämlich gleich zu Beginn die doch unausweichlichen Konsequenzen aus seiner Anlage gezogen hätte.  Der fatale Kreis ist nirgends zu durchbrechen.  Erst am Schluss der letzten, tödlichen Hungerperiode, erkennt der Alte die Vergeblichkeit aller Versuche: "Im Grunde verlor auch der Hungerkünstler den Blick für die wirklichen Verhältnisse nicht; Ö auch die hartnäckigste, fast bewusste Selbsttäuschung hielt den Erfahrungen nicht stand" (S. 263).

 Doch sogar hier noch klammert er sich an einen Rest von Illusion: "Und dieser Anblick [der Menge, die zu den Tieren will] von der Ferne blieb noch immer der schönste" (S.264).  In Wirklichkeit konnte ihn nichts mehr retten.  Ausdrücklich gebraucht der Erzähler dies Wort hier (S. 266).  Denn wo die Kontaktnahme scheitert, und das geschieht paradoxerweise gerade in dem Moment, da man sich an ihn gewöhnt, ist er verloren.  Verloren in doppeltem Sinne: es folgt das Ende eines Lebens, das zudem umsonst gelebt wurde.  Im Gespräch kommt die völlige Aufgabe jedes Ausgleichsversuchs und jedes Anspruchs zum Ausdruck.  "Verzeiht mir alle," sagt der Hungerkünstler. Er ist nicht zu Hause in der Welt des Publikums; der Versuch, sich dort anzusiedeln, ist fehlgeschlagen und bedarf der Verzeihung, weil das Anomale Aufsehen gemacht hat, indem es auf seiner Existenzberechtigung im Bereich des Normalen bestand.  Es war eine Illusion, von der sich der Hungerkünstler aber zuletzt befreit, denn das will doch der Satz bedeuten: "Noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiterhungere" (S. 267).

 Jetzt ist das Hungern nicht mehr zweckgebunden, sondern natürliche Konsequenz der Anlage, eine Rückkehr des Hungerkünstlers zu sich selbst.  Der Unterschied zu einem ähnlichen Satz aus der Zeit vor dem Zirkusengagement fällt sofort auf:
"Warum wollte man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur der grösste Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich schon war, aber auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche, denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er keine Grenzen" (S. 259).
Am noch im Tode Weiterhungernden erweist sich die Grenzenlosigkeit seines Könnens, aber Stolz und Ruhm sind ausgeklammert.

 Reagiert das Publikum jetzt anders?  Keineswegs.  "Nun macht aber Ordnung," sagt der Aufseher (S. 267).  Es ist nicht von ungefähr, dab Kafka hier das Wort Ordnung gebraucht.  Denn das war im Grunde die ganze Existenz des Hungerkünstlers, ein Verstoss gegen die Ordnung.  In den vakanten Käfig gibt man einen vor Vitalität strotzenden Panther, und die Menge begafft nunmehr ihn wie zuvor den Hungerkünstler.  Das Tier ist reine Körperlichkeit.  Selbst ein geistiges Moment wie die Freiheit steckt im Gebiss, ist im Körper ansässig und dient zu seiner Erhaltung, während beim Körper des Hungerkünstlers die Erhaltungsvorkehrungen gleichsam vergessen worden waren.  Benno v. Wiese spricht an dieser Stelle von der Konfrontierung des "freien, mühelos spielenden" Geistes mit dem vitalen Dasein (S. 339).  "Wer aber dennoch unbelehrbar bleibt und dem Panther vor dem Hungerkünstler den Vorzug gibt, sich also gegen den hungernden Geist und seine Absurdität und für die Faszination des Lebens entscheidet, der hat sich damit auch in jene verfremdete, tierhafte Welt zurückbegeben, die Kafka gerade mit aller Anstrengung und dennoch zugleich mühelos aus den Angeln zu heben versuchte, von jenem archimedischen Punkt aus, den man nur findet, wenn man ihn gegen sich selbst anwendet" (S. 342).

 Wäre es aber nicht absurd, ja geradezu lächerlich, wenn die Menge diesen Hungerkünstler als Herausforderung empfände?  Ihr Mangel an Bereitschaft, den skurrilen Alten anders als um seines Unterhaltungswerts willen zur Kenntnis zu nehmen, ist auf das beiderseitige Missverständnis zurückzuführen, nicht auf eine etwaige Dekadenz des Publikums.  Der Erzähler urteilt auch hier nicht, er registriert.  Dasselbe gilt von der Pantherszene, sie trägt keine abwertende Note:
"Es war eine selbst dem stumpfsten Sinn fühlbare Erholung, in dem so lange öden Käfig dieses wilde Tier sich herumwerfen zu sehen" (S. 257).

 Das Hauptstück aus Meno Spanns umfangreichem Beweismaterial sei hier noch einmal zitiert.  Auf einem der Zettel, mit denen Kafka während seiner letzten Krankheit die Unterhaltung mit Freunden zu bestreiten pflegte, schreibt er über einen Bekannten, den er beim Schwimmen beobachtete: "Wenn dieser Robert Ö die Kleider mit ein paar Griffen abwarf, ins Wasser sprang und sich dort herumwälzte mit de Kraft eines schönen wilden Tieres, glänzend vom Wasser, mit strahlenden Augen und gleich weit fort war gegen das Wehr zu -- das war herrlich [6 ]. Die Parallele zur Pantherszene ist verblüffend.  Auch des Hungerkünstlers positive Einstellung zum normalen Leben steht ausser Zweifel:
"Am glücklichsten aber war er, wenn dann der Morgen kam und ihnen [den Wächtern] auf seine Rechnung ein überreiches Frühstück gebracht wurde, auf das sie sich warfen mit dem Appetit gesunder Männer nach einer mühevoll durchwachten Nacht" (S. 257).

 Wenn aber das Thema unserer Dichtung das Missverständnis zwischen Individuum und Menge ist, warum wird dann die Pantherszene überhaupt eingeführt?  Die Antwort darauf ist bereits teilweise vorweggenommen.  Hier gesellt sich nun doch die Gegenüberstellung von Lebensverneinung und Vitalität zum Themenkreis der Erzählung.  Aber, und das ist wichtig, sie wird erst eingeführt auf dem Umweg über die schwankende Parteilichkeit der Menge und ihre starrköpfige Blindheit, über das Missverständnis also, an dem -- müssig, das zu betonen -- der Erzähler nicht teilhat.  Das Thema ist von vornherein mit dem Makel des gar nicht Aktuellen behaftet.  Trotzdem gehört es dazu, denn die Erzählung ist zweischichtig.  Die beiden Themen ergeben sich je nach der Warte, von der aus der Blick auf den Hunerkünstler fällt: von der Ebene des alles überschauenden Erzählers ausserhalb der Geschichte und der des befangenen Publikums innerhalb.  Nur die Menge, die den Hungerkünstler nicht begreift, kann in ihm Lebensverneinung sehen (falls sie ihn nicht überhaupt als Betrüger abtut) und im Panther Lebensbejahung, beiden also einander ausschliessende Haltungen zum Leben zuschreiben.  Das Hauptthema wäre eigentlich mit dem Tod des Hungerkünstlers erschöpft.  Das zweite aber brauchte noch den Gegenpol: nach der (fälschlich angenommenen) Verneinung nun die fleischgewordene Vitalität.  Dadurch aber erhält auch das erste Thema eine abschliessende Verfeinerung.  Dass das Publikum im Panther den absoluten Gegenpol sieht, zeigt noch einmal aufs deutlichste, wie sehr es den Hungerkünstler missverstand.  Denn der Kontrast ist rein äusserlich.  Nur manifestiert sich hier das Leben als unbedingte Vitalität, der nichts mangelt, dort als Verkümmerung, der alles mangelt, ausser dem Willen zum Leben.  Davon wiederum kann beim Panther nicht die Rede sein, der einfach darum lebt, weil er fressen kann und zu fressen bekommt.  Das macht ihn beileibe nicht zum Helden, wie auch der Hungerkünstler trotz seiner Unbeugsamkeit niemals zur sympathischen Figur wird.  Beiden fehlt die Freiheit der ursprünglichen Entscheidung, sie können nur so und nicht anders leben.  Und da die Menge eines Tages auch aus dem Bannkreis um den Panther ausbrechen wird, offenbart sich in ihrer Haltung, die beiden lediglich einen modischen Unterhaltungswert beimisst, eine Art höherer Gerechtigkeit.  Denn die grossen Extreme, die zu Ansporn oder Stein des Anstosses werden könnten, erscheinen hier nur noch in verzerrter Form: als lebensuntüchtige Verkümmerung und animalische Körperlichkeit.
 
 

Notes

1 Benno von Wiese, Franz Kafka. Ein Hungerkünstler, in: Die deutsche Novelle (Düsseldorf 1956), S. 325ff.

2 Meno Spann, Franz Kafka's Leopard, Germanic Review, XXXIV (1959) 85ff.  Dort befindet sich ebenfalls eine ausführliche Bibliographie (S. 87), der inzwischen noch die folgenden Titel beizufügen sind: H. M. Waidson, The Starvation-Artist and the Leopard, Germanic Review, XXXV (1960), 262ff.; Hermann Pongs, Franz Kafka (Heidelberg 1960), S. 88-90.

3 Vgl. William Rubinstein, Franz Kafka: A Hunger Artist, Monatshefte, XLIV (1952).

4 Franz Kafka, Ein Hungerkünstler, in: Erzählungen (New York 1946), S. 255.  Alle Zitate nach dieser Ausgabe.

5 Von mir im Text hervorgehoben.

6  Zitiert nach Max Brod, Franz Kafka (Berlin 1954), S. 252. I first offered this piece of evidence as a Yale graduate student in a seminar paper in the Nineteen Fifties [comment added 4/2/09].