Abitur plus 50.  Fuer die Freunde von damals.

I wrote this piece orginally in 2001 to commemorate the fiftieth anniversary of our Abitur in 1951.  An abbreviated version appeared in Die Glocke, the local newspaper, on December 20 and 21, 2001. In news format, only the editors know why.
 

"Aschoff, Baum, / Breimann, Bremehr, / Brinkemper, Damhus, Deinert / ..."

Sie hatte ihren Rhythmus, die Namensliste des Schulanfangs von 1937, und blieb fast unveraendert, bis sie 1941 durch die der Oberschule abgeloest wurde. Eigentlich sollte ich dort garnicht hin sondern zur Mittelschule, weil meine Eltern die Kosten eines verlaengerten Schulaufenthalts fuer unerschwinglich hielten. Aber der legendaere Lehrer Michels nahm meinenVater zur Seite und redete ihm die Vorbehalte aus, wohl mit dem noetigen Nachdruck, ueber den er als  Reserveoffizier verfuegte.
Dieser umsichtige Mann war einer von vielen, die an wichtigen Kreuzungen meines Lebens einfach da waren und gebeten oder ungebeten die Weichen stellen halfen. Wieviel taetiges Wohlwollen anderer zu einem ganz normalen Leben noetig ist, habe ich immer wieder mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Besorgnis erfahren.

Mit dem Kriegsende im Mai 45 hoerte auch die Schule auf, die bis dahin leidlich funktioniert hatte. Nun war ich nicht nur begeisterter Pimpf gewesen sondern gleichzeitig Messdiener bei den  Franziskanern. Die machten schon im Herbst 1945 im Sauerlaendischen Attendorn ein Schul-Internat auf, und ab Januar 1946 war ich dabei. Den Nachkriegsposten als Wiedenbruecker Polizeibote gab ich ungern auf, man lernte dort viel. Aber Attendorn war Neuland. Wie nahtlos ich dort von der Hitlerjugend in die katholische buendische Jugendbewegung wechselte hat mich spaeter erstaunt. Zu Unrecht, denn was uns Teenagers wichtig war, war nicht die ideologische Ausrichtung, sondern die Zugehoerigkeit zur Gruppe Gleichaltriger, in der die Erwachsenen, wie sie in Schule-Kirche-Elternhaus vorkommen, nichts zu sagen hatten. Das war unsere Welt, "Jugend fuehrt Jugend", wie die fruehen Jugendbewegten es 1911 auf dem Hohen Meissner formuliert hatten.

Den nachhaltigsten Eindruck im Attendorner Internat hinterliess ein Franziskaner, der Biologe war, Insektenforscher. Er kam nur einmal zu Besuch und hielt vor Schuelern und Moenchen einen Vortrag ueber das Kommunikationssystem von Bienen. Er nannte es Sprache und hatte sofort den ganzen Tempel der Rechtglaeubigen gegen sich. Sprache. Die haben doch nur wir, die Leztgeschaffenen. Der Wissenschaftler in der Moenchskutte jedoch blieb ungeruehrt und liess keinen Zweifel daran, dass er seine Mitbrueder nicht fuer die Krone der Schoepfung hielt. Und uns Schulern legte er spaeter nahe, ueberkommenes Vorurteil nicht mit Glauben zu verwechseln. An ihn wurde ich wieder lebhaft erinnert, als ich die Arbeiten des Jesuiten Teilhard kennenlernte. Ein ausserplanmaessiger Mentor, wie  schon frueher der radikal systemfeindliche Schuhmacher Dreisvogt aus der Langen Strasse, der mich Hitler-glaeubigen ueberzeugen wollte, dass das "alles Verbrecher" waren und wir den Krieg verlieren wuerden. Er gefiel mir, auch wenn ich empoert war und ihm nicht glaubte. Heute bin ich ueberzeugt, dass er insgeheim der natuerlichen Kritiklust des Jugendlichen imponierte und mir den Obrigkeitsstaat gruendlich und auf die Dauer verleidete, somit mein erster politischer Mentor wurde.
Und da war noch der alte Nieling gewesen. Die Wiedenbruecker Oberschule litt in den Kriegsjahren unter starkem Lehrermangel. Am Ende war fast jeder k.v. und wurde geholt. "Lieb Vaterland, magst ruhig sein, der Adolf zieht die Opas ein," sangen wir und wuenschten es sogar einigen Opas, die wir nicht mochten. Den alten Nieling aber wollten wir behalten, er genoss den Respekt einer sonst respektlosen Meute, auch litt er unter schmerzhaften Kolikanfaellen. Der Mann war echt. Er hielt nichts von den Braunen, sah es auch nicht gern, wenn wir uniformiert zur Schule kamen. Er sagte es zwar nicht laut, aber man merkte es.

Als mich die Attendorner Padres drei Jahre spaeter freundlich aber bestimmt entliessen, gabs noch kein Abitur in Wiedenbrueck, man musste nach Guetersloh ans Evangelisch-Stiftische Gymnasium. Meine ehemaligen Klassenkameraden, um einige vermehrt und vermindert, waren schon ein Jahr dort, als ich dazustiess. Und gleichzeitig begann fuer mich ein Zustand totaler Verliebtheit. Maria and Berna und Berni und Magda, Gertrud und Helga, Marielies und  Annemarie. Nur wussten die nichts von ihrem Glueck, denn so forsch ich mich auch sonst gab, hier fehlte mir der Schneid.

Der Guetersloher Schulbetrieb, den ich zwei Jahre lang miterlebte, war fabelhaft unkonventionell. Wir, zumeist Fahrschueler, waren die Parallelklasse, die andere hielt sich fuer die echten Goettersoehne. Ich weiss nicht, ob sie uns nicht heimlich beneideten, denn wir hatten den Historiker Hermann Strenger als Klassenlehrer, Rasper fuers Deutsche, Hitzemann in der Mathematik. Was mir in bester Erinnerung geblieben ist, war ihre Leichtigkeit im Umgang mit uns. Sie waren einem nie im Wege, eine paedagogische Strategie, die ich dann selber vier Jahrzehnte lang  verfolgt habe. Natuerlich teilten sie mit, was der Lehrplan vorschrieb, im uebrigen aber respektierten und foerderten sie das Interesse des Einzelnen. Oder sie liessen einen in Ruhe, wie der mir gegenueber unglaublich nachsichtige Hitzemann. Man konnte eben nicht alles machen. Die Jugendbewegug war mir sehr wichtig, die Mathematik weniger (was ich heute noch bereue). Und das traf, wenn auch nicht gerade auf Zustimming, so doch auf Duldung.
Die drei waren weder Fachidioten noch Pauker, sondern Vollblutlehrer, wie ich sie besser und menschlich engagierter nirgends angetroffen habe. Weltwirtschaftskrise und Krieg hatten sie gepraegt, und sie wussten genau wie wir, dass es Wichtigeres gab als das Fach. Otto Rasper, ein passionierter Pianist, hatte noch in den letzten Kriegsmonaten einen Arm verloren. Ich traf ihn ein Dutzend Jahre spaeter zufaellig in Berlin; er hatte den Schuldienst verlassen, weil er seinen Schulleiter nicht ausstehen konnte, der ihm beim Schueler-Theater dreinredete. Mit Hermann Strenger habe ich noch lange korrespondiert. Sein literarischer Geschmack blieb konservativ. "Guenter Grass ist ein Schwein", schrieb er lapidar, als er die Blechtrommel gelesen hatte. Und eine elegante junge Frau namens Hitzemann erschien als Austauschstudentin der FU Berlin eines Tages bei uns in Cornell. Der  Name war mir aus Guetersloh in bester Erinnerung. "Mein Grossvater," sagte sie.

Mein Abiturzeugnis wuerde ich heute geheimhalten. "Na und?" sagte der schon damals legendaere Germanist Benno von Wiese, an den mich die skeptische Dekanats-Sekretaerin verwies. Er war gerade Dekan in Muenster und fuer meine Zulassung zustaendig. "Ich habe auch eine Fuenf in Mathematik gehabt und bin trotzdem Professor geworden." Als ich ihn  Jahre spaeter am Bahnhof von New Haven zu einem Vortrag abholte, er war Gast-Professor in Princeton und ich Doktorand an der Yale University, erinnerte er sich sofort und fand seine Ansicht bestaetigt. Sehnse? Er war fuers Unkonventionelle und foerderte es.

Das Abitur schafften wir alle, auch wenn wir aus lauter Angst davor am liebsten in die Fremdenlegion gegangen waeren. Was nun? Arbeiten. Geld verdienen. Bei der STRABAG hatten einige von uns schon in den Schulferien gearbeitet. Ich war dann zu den Batenhorster Wonnemaennern in die Moebelbranche uebergewechselt, hatte an der Funierpresse meine Erfahrungen gesammelt, und jetzt setzte man mich dort voll ein.  Ohne diese grosszuegige Firma waere ich nie ueber die ersten Runden gekommen. Trotzdem, ein Semester Uni Muenster, das naechste in Batenhorst, dann wieder Muenster, wo ich im Kettelerheim wohnte und eine Gruppe von Postlehrlingen betreute -- wann waere ich wohl fertig geworden?

Ein zertruemmertes Auto gab den Ausschlag. Freunde hatten den Wagen aus der elterlichen Garage geholt und zu einer Nachtfahrt benutzt. Ich durfte auch fahren und raste gegen den naechsten Apfelbaum. Ende vom Paradies. Der Wagen lag auf der Seite, Totalschaden, Himmelarschundwolkenbruch, verletzt war gottlob keiner. Kennt jemand die ungeheure Stille nach diesem Ur-Knall, angefuellt mit Schock und Scham und Schande? Ein Glaubwuerdigkeitsverlust von allerschaerfster Konsequenz, nie wieder gutzumachen. Du moechtest dich verkriechen, aber sie kennen dich alle und weisen mit Fingern auf dich.  Was bleibt? Amerika, die Zuflucht all derer, die sich nicht mehr sehen lassen koennen.

Ich hatte in der Jugendbewegung den prominenten Franziskaner Elisaeus Fuller kennengelernt, der spaeter zum Viererkollegium in Rom gehoerte, das den Orden regiert. Der verwies mich an seinen Ordensbruder Philotheus Boehner, aus Lichtenau bei Paderborn gebuertig, der im Staate New York an der St. Bonaventure University das Franziskanische Institut leitete. Praesident der Universitaet war uebrigens der Franziskaner Thomas Plassmann aus Avenwedde bei Guetersloh.

Weil er allzu laut seine Meinung ueber die "braune Pest" verkuendete, hatten seine Mitbrueder den angehenden Mediaevisten Boehner zu Etienne Gilson an das Pontifical Institute in Toronto geschickt. Kurz bevor England Deutschland den Krieg erklaerte, und Canada ihn entweder interniert oder gar nach Deutschland zurueckgeschickt haette, holte ihn Plassmann schnell ueber die Grenze in die USA.

Der Philosophie-Professor Boehner war promovierter Biologe, hatte ueber Tulpen gearbeitet, und sammelte als Hobby im laendlichen New York Moose und Flechten zwecks genauer Identifizierung. Thomas Merton, der kurz sein Schueler war, berichtet davon in seinem autobiographischen Roman "The Seven Storey Mountain." Aber Boehners geradezu missionarischer Eifer gehoerte dem genialen Querkopf seines Ordens, William Ockham (1285-1349), dessen theologische und philosophische Werke (opera nonpolitica) er kritisch herausgab. Die ersten Baende waren erschienen, als er 1955 im Alter von erst 54 Jahren unerwartet starb. 30 Jahre spaeter war das monumentale Unterfangen abgeschlossen. Ockham und Boehner wurden auf einem Symposium gefeiert, zu dem auch Umberto Eco kam, der Ockham, dem "besten analytischen Verstand des 14. Jahrhunderts," in seinem Roman "Der Name der Rose" ein Denkmal gesetzt hatte.

Boehner hatte mir im Mai 1954 die Einwanderung in die USA ermoeglicht. Den Sommer verbrachte ich am Institut und in einer gerade gegruendeten Druckerei. Im Herbst ging ich als Deutsch-, Latein- und Grundstufen-Mathematiklehrer an eine von Franziskanern geleitete High School in Buffalo, den naechsten Sommer arbeitete ich im Stahlwerk, Bethlehem Steel in Lackawanna. Aber am Wochenende, als Boehner in St. Bonaventure starb, war ich dort zu Besuch. Die Bestuerzung im Kloster und im benachbarten Priesterseminar war gross, und es hat lange gedauert, bis das Franciscan Institute wieder voll arbeitsfaehig war.

Ich haette im Stahlwerk bleiben koennen, einer der Werksingenieure, ein ausgewanderter Schwabe, lud mich ausdruecklich und wiederholt dazu ein. "Wir bilden dich aus," sagte er, "die Karriere machst du dann selber." Das war das Amerika der fuenfziger Jahre. Es wurde einem zwar nichts geschenkt, aber als Vorbildung reichten Lern- und Risikobereitschaft. Die Versuchung war gross, aber am Ende siegten Literatur und Lehramt. Ich habe es nie bereut.

Fuer den Herbst 1955 hatte ich naemlich an der Yale University eine Stelle als Teaching Assistant fuer deutsche Sprache erhalten, und damit endlich das feste wenn auch magere Einkommen zum weiteren Studium. Vier Jahre spaeter promovierte ich mit einer Dissertation ueber Rilke, auf den mich zuerst der charismatische Wiedenbruecker Kaplan Heinrich Brechmann aufmerksam gemacht hatte.  Geheiratet hatte ich inzwischen auch. Waltrauts Mutter stammte aus Dortmund, ihr Vater aus Arolsen in Waldeck. Sie selber war zwar in New York City geboren, aber mit ihrer Familie durch den Krieg in Deutschland festgehalten worden. Ende der vierziger Jahre ging sie zunaechst allein zurueck und erschien ein Jahr spaeter als ich an der Yale University als Komparatistikstudentin, Promotion 1962 mit einer Arbeit ueber den Heidelberger Germanisten Friedrich Gundolf. Sie lehrte zuletzt bis zu ihrer Emeritierung am Wells College for Women.

Zwei Kinder, Erika und Mark, kamen 1963 und 1966 hinzu. Das waren nun Amerikaner, und so blieben wir es auch, an eine Rueckkehr nach Europa haben wir nie ernstlich gedacht. Ausser im Sommer, jedes Jahr mindestens zwei Monate. Und das kam so. In Yale waren wir mit einem rechtzeitig ausgewanderten Berliner Juden befreundet, Frank Hirschbach, der ein paar Jahre frueher als wir promoviert und danach in Berlin ein Sommerprogramm fuer amerikanische Studenten gegruendet hatte. Als er in Wien ein Parallelprogramm plante, uebernahmen  Waltraut und ich von 1960-68 die Berliner Abteilung. So begann unsere Love Affair mit dieser faszinierenden Stadt, in der wir uns noch immer jedes Jahr ein paar Wochen aufhalten, bei Freunden wohnen und ungeniert Kulturtourismus treiben. Unser Leben und das unserer Berliner Freunde, die durch die Studenten, die bei ihnen wohnten, viele Kontakte in den USA fanden, waere ganz anders verlaufen, waeren wir damals statt nach Berlin nach Wien gegangen. Oesterreich haben wir spaeter kennen und lieben gelernt und verbringen auch dort jaehrlich ein paar Wochen. Alles zunaechst mit den Kindern, die dadurch zweisprachig aufwuchsen und auf beiden Kontinenten daheim sind, wenn sie auch zu ihrem Leidwesen nur noch selten herkommen.

Schwerpunkte meiner Lehrtaetigkeit, zunaechst an der University of Georgia und Duke University, seit 1965 an der Cornell University, ist die Kulturgeschichte seit der Reformation. Das Studium der deutschen Sprache ist in den USA arg ruecklaeufig, und viele Seminare behandeln jetzt deutsche Texte in Uebersetzung. Ich mache es allerdings gern, denn man erreicht so auch Interessenten, die zwar kein Deutsch koennen, sich aber fuer deutsche Geschichte und Kultur interessieren. Es ist mir kuerzlich wieder klar geworden, dass ich mich im Grunde vorrangig als Vermittler verstanden habe, sozusagen als Diplomat im akademischen Dienst. Und zwar mit dem Anliegen, dass unseren Studenten bei dem Wort  Deutsch nicht mehr zuerst der Zweite Weltkrieg und der Holocaust einfallen, sondern Kafka, Freud und Einstein, Goethes Faust und Mozarts Zauberfloete. Auch Preussen, aber das echte. Kant und Kleist und Fontane; Hardenberg, Scharnhorst und Gneisenau; die Humboldts und die Mendelssohns; der Baron von Steuben und die Koenigin Luise.